Interview zum Leben in Corona-Zeiten mit dem HIV-Aktivisten Christoph Schreiber
Zur Person
Christoph Schreiber, Gründungs- und Vorstandsmitglied von pro plus berlin e.V.
Gender/Selbstidentifikation: Schwuler Mann
Pronomen: Er
Zählst du dich zu einer oder mehreren Szenen und wieviel Zeit hast du vor Corona mit queeren Menschen verbracht?
Ich zähle zu der schwulen Szene, aber weniger zu einer konkreten Subkultur. Die meisten in meinem Bekanntenkreis kommen aus diesem Bereich.
Hat sich der Kontakt mit diesem Bekanntenkreis während Corona verändert?
Ich habe im Moment weniger, beziehungsweise anders mit Menschen Kontakt. Ich telefoniere und „FaceTime“ jetzt mehr mit Menschen.
Habt ihr auch einen Chatroom für mehrere Leute gleichzeitig?
Wir haben von pro plus berlin e.V. einen virtuellen Stammtisch auf Slack. Die Resonanz ist aber im Moment nicht so groß. In diesem Chatroom kann man zeitunabhängig schreiben. Wir haben die Möglichkeit, Leute in unseren Channel einzuladen. Sie können sich aber auch selbst hinzufügen. Das ist ganz unabhängig von der Uhrzeit. Er nennt sich nur virtueller Stammtisch, weil da auch Leute von außerhalb des Vereins rein können. Im Moment sind nur sechs oder sieben Leute im Chat. Wir gehen davon aus, dass der physische Stammtisch vielleicht im Mai wieder stattfindet. Obwohl ich nicht wirklich daran glaube, ist es schön, dass er noch nicht abgesagt ist. Im Moment gibt es in diesen Chats auch kein dominantes Thema. Es geht eher um Dinge wie die Balkongestaltung- eben ganz normale Gespräche über Gott und die Welt.
Wie gehst du im Moment mit Sex und Sexpartnern um?
Ich war vor Corona Single und bin es jetzt auch noch. Mit Sex sollen wir ja ein bisschen aufpassen. Ich habe ein bis zwei Leute, mit denen ich mich regelmäßig vorher getroffen habe. Mit diesen Menschen treffe ich mich jetzt auch noch. Bei diesen Personen weiß ich einfach, dass falls sie Halskratzen hätten, sie nicht unbedingt irgendwo hinwollen um zu vögeln. Gegenseitiges Vertrauen ist einfach gegeben. Es gibt aber keine konkrete Corona-Absprache. Der eine ist Student. An Hochschulen und Unis findet ja auch nicht viel statt und wenn überhaupt dann online. Er, von sich aus, achtet auf die Umstände und von daher mache ich mir da überhaupt keine Gedanken.
Wie geht es dir in deiner Wohnung? Gibt es Orte an denen du dich während Corona wohl fühlst?
Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben. Gerade hat es angefangen zu regnen, aber sonst sitze ich auf dem Balkon, den ich mit Pflanzen hergerichtet habe. Die blühen gerade und müssen täglich gegossen werden. Ich sitze aber auch nicht den ganzen Tag zu Hause, da ich weiterhin zur Arbeit muss. Im Moment sind wir vier Leute, aber morgen wird eine Kollegin in die Rente verabschiedet. Die Meisten sind ja im Homeoffice, aber ich kann nichts von zu Hause aus machen. Das liegt daran, dass die Verwaltung im öffentlichen Dienst wie üblich den Fortschritt verschlafen hat. Die haben zwar VPNs und ich kann auf das Intranet und meine Mails zugreifen, aber alles was ich bearbeiten muss, läuft über Papier. Mein Arbeitgeber ist mit diesen Problemen nicht alleine. Es gab auch vor Kurzem zum Beispiel auch einen Bericht von der Berliner Verwaltung zum Thema „Home Office“. Dieser Bericht kam auch zu dem Schluss, dass Organisationen es verschlafen haben, diese Strukturen aufzubauen. Ich würde mir mehr digitale Infrastruktur wünschen.
Gibt es eine finanzielle Veränderung für dich durch Corona?
Nein. Ich bin nicht in Kurzarbeit und habe auch keine berufliche Unsicherheiten.
Nutzt du im Moment noch Dating-Apps?
Ich habe auch vor Corona selten Dating-Apps benutzt. Ich wohne direkt im Schöneberger Kiez und mit der Umkreissuche von Grindr kommt man da nicht weit. Alles, was mit Umkreissuche passiert, ist langweilig und anstrengend. Romeo nutze ich eher, um bei Langeweile mal reinzuschauen, aber nicht, um einfach nur mit Leuten zu chatten. Ich war da aber auch schon ein paar Tage nicht mehr online. Ich finde manche Diskussionen auf Facebook zu Sex nicht gut. Wenn jemand in einer Gruppe Sex haben möchte, wird darauf richtig eingedroschen. Die Leute schreiben dann: “Wie kannst du nur?!“ Ich finde Leute, die so aggressiv werden, sehr interessant.
Wer nach so langer Zeit keine Lust auf Sex verspürt, sollte trotzdem nicht andere derart verurteilen.
Gerade heute morgen habe ich einen Artikel gelesen, der aussagte, dass COVID-19 nicht sexuell übertragbar ist – also nicht über Sperma usw. weitergegeben werden kann. Natürlich haben Menschen beim Sex nahen Kontakt und küssen vielleicht. Über diesen Kontakt kann man sich natürlich mit Corona anstecken. Es gibt aber auch viele Sachen, bei denen nichts passieren kann und bei anderen Sachen sollte man sowieso Handschuhe benutzen. Ich finde diese Diskussionen sehr irritierend. Es wird auch nicht berücksichtigt, dass ein 21-Jähriger einen ganz anderen Sexualtrieb hat, als ein 40, 50 oder 60-Jähriger.
Es gibt ja im Moment auch Menschen, die Parallelen zwischen Corona und HIV ziehen. Würdest du dem zustimmen? Also der Reflex, auf die vermeintlich “Unvernünftigen” zu zeigen?
Ich habe diese Argumente auch schon in mehreren Überschrift gelesen. Ich kann noch nicht mal sagen, warum ich die Artikel nicht gelesen habe, aber es war irgendwie eine bewusste Entscheidung. Aber wenn ich mir diese Verläufe in Gruppen anschaue, dann gibt es schon Parallelen zu früher.
Jetzt ist der Sex eben wieder böse und wieder etwas Schlechtes.
Bei queer.de gab es einen Artikel zu Corona, der auch sagt, dass Corona keine Sexuell-Übertragbare-Infektion (STI) ist. Wenn Corona sexuell übertragbar wäre, dann würde das die ganze Präventionsarbeit der AIDS-Hilfen und der Vorortarbeit deutlich verändern. Man kann aber Parallelen zu anderen Problemen ziehen. Genauso hört man ja auch immer wieder, dass asiatisch-stämmige Menschen blöd angemacht werden wegen Corona. Diese und andere Diskriminierungen ähneln ja schon den Erfahrungen, die schwule Männer gemacht haben, als es noch den Paragraphen 175 (aus dem Gesetz, welches homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte) gab. Auch heute finden ja weiterhin homophobe Übergriffe statt.
Wenn die Präventionsprojekte jetzt Corona-Aufklärung machen würden, wo hören sie dann auf? Dann muss man Menschen auch kommunizieren, dass sie sich beim Sex einen Schnupfen oder eine Grippe holen können. Natürlich kann körperliche Nähe mit einem Ansteckungsrisiko einhergehen, aber das liegt nicht am Sex, sondern am fehlenden Abstand.
Fehlen dir queere Orte und wenn ja: warum?
Ja, sie fehlen mir. Einfach mal was trinken gehen und aus der Wohnung rauszukommen, ist im Moment nicht möglich. Gerade bin ich eben im Büro oder zu Hause.
Die große Abwechslung ist der Supermarkt um die Ecke.
Da fehlt schon einiges. Vor Corona bin ich gerne in die Schöneberger Bars gegangen. Es geht weniger um einen konkreten Ort, sondern das Bar- und Clubleben fehlen im Allgemeinen. Auch vor Corona bin ich nicht jedes Wochenende weggegangen – trotzdem fehlt es.
Würdest du sagen, dass es einen Einfluss auf unsere Communities hat, dass der CSD dieses Jahr nicht physisch stattfinden kann? Manche Menschen sagen ja, der physische CSD wäre wichtig, um Sichtbarkeit herzustellen. Wie siehst du das?
Ich habe die Diskussion nicht komplett verfolgt. Es soll ja einen online CSD geben. Ich kann mir gerade überhaupt kein Bild davon machen, wie das ablaufen soll. Ich meine das weder positiv noch negativ. Ich bin da eher unkreativ und hätte in einer solchen Situation keine Idee, wie ein CSD abgehalten werden kann. Daher bin ich sehr gespannt, wie das wird. Ob die schwule Community darunter leiden wird? Waren es nicht die schwulen DJs bzw. queere Clubs, die als erstes angefangen haben, auf Facebook und anderswo zu streamen? Der KitKat Club war ja auch am Anfang mit dabei. Diesen Club würde ich zwar nicht als schwul, aber doch als irgendwie queer bezeichnen.
Ich glaube, die queere Community hat sich schon immer irgendwie zu helfen gewusst.
Auch früher unter dem Paragraph 175 fanden die Parties im Untergrund statt und nichts war offiziell. Es war damals leider auch notwendig, sich eigene Parties bzw. Räume zu schaffen. Ich glaube, das kann die Community von Natur aus ganz gut. Freunde haben mir erzählt, dass es ganz schön viele private Sexparties geben soll – noch mehr als sonst. Dies zeigt ja auch, dass Menschen eben erfinderisch werden. Wenn jemand gerne ins Lab geht um zu vögeln, dann geht er jetzt eben an einen anderen Ort. Da es im Moment keine offiziellen Veranstaltungen gibt, müssen Menschen sich eben einen Raum schaffen. Im Moment bleibt da ja nur eine private Party.
Denkst du, dass diese Situation nachhaltig die Ausgehgewohnheiten verändern wird?
Das glaube ich nicht. Es ist gut, dass Clubs wie das Schwuz streamen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Schwuz auch nach Wiedereröffnung, dieses Streamen fortsetzen könnte. Dieses Format könnte auch nach Corona gut ankommen. Das wäre toll für Leute, die nicht in Berlin sind oder denen es gesundheitlich nicht möglich ist in einen Club zu gehen. Ich glaube das könnte sehr gut ankommen. Das wird wahrscheinlich nicht in allen Clubs gehen. In unserem pro plus berlin e.V. Newsletter, der gerade wieder raus kam, habe ich einen Satz von Max Frisch geschrieben:
“Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.”
Max Frisch
Den Spruch finde ich sehr gut, weil das die queere Community gerade macht – sei es mit streamen, mit digitalen Stammtischen oder anderen kreativen Lösungen. Menschen werden erfinderisch. Ich bin gespannt, was sich positiv verändern wird – selbst wenn es am Ende nur der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland ist. Was ich abgesehen vom queeren Kontext interessant finde, ist die Nachbarschaftshilfe, die im Moment wesentlich stärker ausgeprägt ist. Menschen gehen zum Beispiel für ältere Nachbarn einkaufen. Es würde mich freuen, wenn das weiter beibehalten wird. Diese Unterstützung und Achtsamkeit gegenüber Mitmenschen ist toll. Ich glaube, das wird sich aber wieder schnell nach Corona ändern, weil Menschen immer noch Menschen sind.
Welche Dinge bringen dir während dieser Zeit Freude? Was macht dich glücklich?
Mein Balkon und alles was drauf blüht. Darüber freue ich mich. Sonst fällt mir gerade nichts ein.
Wenn du mit Menschen sprichst, die gerade sehr verzweifelt sind, hättest du einen Tipp oder eine Ressource für diese Personen?
Ich glaube, es kommt auf die Leute an und die Gründe für ihre Verzweiflung. Liegt es vielleicht daran, dass diese Person vorher schon depressiv war? Ein solches Krankheitsbild ist eine andere Geschichte, als wenn Menschen einfach nur die Decke auf den Kopf fällt.
Es ist gut, sich mit Anderen auszutauschen und die Nachrichten mal auszuschalten, um nicht ständig Corona, Corona, Corona… zu hören.
Auf Facebook zerreißen sich die Leute gerade die Mäuler über AKK, weil sie bei der Entgegennahme der Masken in Leipzig keinen Mindestabstand eingehalten und keinen Mundschutz getragen hat. Ich mag die Frau auch nicht und sie hätte darauf achten sollen – vor allem, wenn gerade Gesichtsmasken entgegen genommen werden. Sie denkt sowieso nicht nach, aber jetzt geht das in den Sozialen Medien wieder Richtung Verschwörungstheorie. Ich denke, es ist gut mal alles auszuschalten oder sich mal nicht mit diesen Beiträgen auseinanderzusetzen. Im Moment ist es wichtig, sich medial abzugrenzen.
Auf was freust du dich am meisten, nachdem die Restriktionen wieder gelockert beziehungsweise aufgehoben sind?
Ich würde mich freuen, wenn die Läden, die ich kannte, nach Corona noch existieren.
Das Interview wurde geführt von Simon Lang, SIDEKICKS.BERLIN.