Interview mit dem Arzt und Nachbarschaftshelfer Wolf
Zur Person
Name: Wolf
Gender/Sexualität: Gender: männlich, Identität: männlich, Orientierung: homosexuell
Was machst du?
Ich habe als Gesundheits-System-Entwickler gearbeitet, fast immer in außereuropäischen Ländern. Seit 2012 lebe ich wieder ausschließlich in Berlin, habe anfangs nach neuen Betätigungsfeldern gesucht, war Gasthörer an der FU. 2016 habe ich mich dann für eine Ausbildung zum systemischen Coach entschieden, habe parallel noch eine Hypnoseausbildung absolviert, im Juni schließe ich die Weiterbildung zum systemischen Supervisor ab.
Was machst du jetzt?
Mit den Abschlussformalitäten und den Praxisnachweisen für die Zertifizierung meiner aktuellen Weiterbildung bin ich zur Zeit ziemlich eingespannt. Die Corona-Entschleunigung kommt mir da entgegen. Ehrenamtlich engagiere ich mich bei der Berliner Tafel, bei Mann-o-Meter in der AG-Knast, bei SIDEKICKS.BERLIN in der Vorortarbeit und im Gay Health Chat der Deutschen Aidshilfe.
Zählst du dich als ein Teil einer Szene?
Nicht mehr. Ich war immer eher randständig und nie so ein aktiver Szenegänger. Die meiste Zeit war ich eh im Ausland und während der Deutschlandbesuche blieb immer nur wenig Zeit für ein Bad in der schwulen Menge.
Wieviel Zeit hast du mit queeren Menschen verbracht? Hat sich das durch Corona verändert?
Vor Corona hatte ich ca. ein Drittel meiner Zeit mit schwulen Männern zu tun, meist in der Beratung vor Ort oder online. Die Vor-Ort-Arbeit hatte ich bereits auf Tages-Aktivitäten reduziert, lange Nächte stecke ich nicht mehr so gut weg. Vor Corona besuchte ich zweimal im Monat einen schwulen Mann in einer Berliner Justiz-Vollzugsanstalt. Das geht zur Zeit auch nicht mehr. Dadurch haben sich meine queren Kontakte auf vielleicht 10% meiner Zeit reduziert. Die DAH Online-Beratung geht ja weiter. Die übernehme ich weiterhin einmal in der Woche, meist Sonntag.
Haben sich die Bedarfe in der Online-Beratung verändert?
Es sind etwas weniger online-Anfragen zu HIV und STI, immer öfter melden sich aber Frauen und Hetero-Männer.
Haben sich die Themen verändert?
Nein, es sind die gleichen Themen: HIV und STI, Risikoabwägungen, dringende PEP-Anfragen, viele Fragen und Klarstellungen zu PrEP und Schutz durch Therapie.
Wie hat sich die Arbeit mit JVA-Insassen für Mann-o-Meter verändert?
Ich kenne meinen Knast-Partner erst seit ca. 8 Monaten. Er sitzt wegen ziemlich schlimmer Sachen ein, ist aber verletzlich und neigt zu depressiven Verstimmungen. Die Kommunikation mit ihm ist manchmal nicht einfach. Das hat aber nichts mit Corona zu tun. Statt Besuchen schreibe ihm wöchentlich und bekomme seine Rückmeldungen über seinen Sozialbetreuer. Er sagt, dass ihm die Post hilft.
Wie hast du während des Lock-Down deine sozialen Kontakte gestaltet?
Meine sozialen Kontakte sind und bleiben zur Zeit auf zwei Gruppen beschränkt. Die eine ist unsere „Senioren-Wohn-und Lebensgemeinschaft“ bestehend aus vier Personen, 72 bis 83 Jahre, einem Hund, 3 Jahre, drei Autos und vier Führerscheinen.
Beim (fast) täglichen Frühstück werden Aufgaben besprochen und verteilt, z.B. wer bringt wen wohin, wer versorgt den Hund, was an Lebensmitteln fehlt etc.
Die zweite Kontakt-Gruppe ist meine Schwester, 80, und ihre (zunehmend demente) Freundin, 72. Mit den anderen Nachbarn in der Straße halte ich Kontakt auf Abstand. Vor zwei Wochen baten zwei Personen um eine Präsenz-Beratung, 90 Minuten, mit Mundschutz und Abstand. Andere Beratungen und auch die Weiterbildungen finden online statt.
Reicht dir dieser Kontakt? Wie geht es dir mit der Veränderung?
Ich würde mich gerne wieder einmal Vor-Ort tummeln, z.B. in sidekickss Nacht-Café im Tiergarten. Die Kontaktsperre zu meinem JVA-Insassen belastet mich auch ein bisschen. Es wäre auch schön mal wieder ins Theater, Kino oder Restaurant zu gehen.
In der verordneten Nähe erlebe ich meine Leute intensiver, lerne sie besser kennen – und vor allem wertschätzen!
Der Wert der gegenseitigen Fürsorge und Zuneigung war in der Tagesroutine oft nicht mehr so präsent. Jetzt wird mir wieder bewusst, welche Schätzchen meine Freunden sind.
Wie ist es mit deiner Wohnsituation? Gibt es andere Orte, die dir Kraft geben?
Unsere Alten-WG, das sind 2 benachbarte Häuser mit Garten. Durch ein kleines Tor kommen wir zueinander ohne auf die Straße zu müssen. Wir können uns hier wunderbar bewegen.
Hat sich deine finanzielle Situation durch Corona verändert?
Nein – ich habe weiterhin meine Rente, gebe aber weniger Geld aus.
Konsumierst du Substanzen?
Nein- auch keinen Alkohol, nicht aus Prinzip, sondern weil ich keinen Bedarf habe.
Wie ist es mit Sexdates oder Apps?
Ich hatte in den vergangenen fünf Jahren auch keine Sexdates und nutze keine Kontakt-Apps.
Wie ist die Stimmung bei deinen queeren Freunden?
Ich denke, denen geht es genauso wie allen anderen.
Die Kontakte in den Corona-bedingten Lebensgemeinschaften intensivieren sich oder durchlaufen gerade einen Stresstest.
Viele entdecken die Möglichkeiten der digitalen Medien als Ergänzung zum den physischen Kontakten. Die Mann-o-Meter Knast AG lädt regelmäßig zu einem Online-Schwatz, erfragt Befindlichkeiten. Schon die Frage „geht es dir gut“ ist entlastend, motivierend, wirkt positiv. Deswegen finde ich das sidekicks-Interview gut, weil es den Mitgliedern Interesse und Nähe signalisiert.
Gibt es queere Orte, die dir fehlen?
Vielleicht das Nacht-Café im Tiergarten … und die sidekicks Plena.
Wie sieht es mit deiner psychischen Gesundheit aus?
Mir geht es gut, ich bin mobil und noch einigermaßen klar im Kopf – glaube ich.
Würdest du sagen, dass du eine Persönlichkeit hast, die gut für Corona geeignet ist?
Ja, vielleicht schon. Ich schätze Teamarbeit sehr, bin aber gerne auch Einzelkämpfer, komme gut alleine zurecht, kann mich beschäftigen, bin noch an (fast) allem interessiert,
Mir fällt die Decke eigentlich nie auf Kopf, da hat Corona keine Chance.
Wie geht es deinen Freunden?
Alle meine Freunde sind aktive und sozial engagierte Leute. In Haus und Garten steht immer etwas an, jemanden braucht immer Unterstützung. All meine Freunde sind immer mit irgend etwas zugange. Die tägliche Beschäftigung gibt dem Tag Struktur und Sinn. Und alle sind Entspannt, machen sich nicht verrückt. Keiner ist offen für Corona-Verschwörungen oder Alternativ-Erklärungen. Manche schicken pseudo-wissenschaftliche Artikel zur Kommentierung, wollen aber eigentlich ihr Arsenal an entkräftenden Argumenten aufrüsten.
Wo gibt es gerade die größten sozialen Bedarfe?
Die Isolierten und Einsamen wollen reden, ihre angestauten Themen los werden, denen geht es ums Zuhören.
Machst du dir Sorgen dich selbst mit Corona zu infizieren?
Nein, ich habe keinen Grund. Ich weiß wie eine Epidemie abläuft, habe 2002/2003 ein Gesundheitsministerium wegen SARS-Maßnahmen beraten. Manchen meiner Freunde fehlt das naturwissenschaftliche Verständnis, viele unterscheiden nicht zwischen infiziert, infektiös und erkrankt.
Wer die Zusammenhänge einigermaßen kennt kann Risiken besser einschätzen und vermeiden. Ich beschränke mich auf meine wenigen Kontakte, plane meine BVG-Fahrten besser, halte in der Öffentlichkeit Distanz und trage Mund-Nasen-Schutz.
Welche drei Dinge machen dir in der Corona-Zeit Freude?
Mein Helferdrang erhält noch mehr Betätigungsfelder: Berliner Tafel, Einkäufe für Nachbarn, für meine Schwester Beschwerden bei ihrem neuen Handy-Anbieter, ich freue mich auf und über jeden Auftrag den ich übernehmen kann. Ich freue mich, dass ich im Ruhestand noch relativ fit bin und so viele Sachen machen kann, selbstbestimmt und ohne Dringlichkeit … außer den dringenden Sachen.
Dieses Jahr wird der CSD ja leider auch nicht physisch stattfinden können. Auch das Straßenfest kann nicht in der üblichen Form stattfinden. Würdest du sagen, dass dies einen Einfluss auf die queeren bzw. schwul/lesbischen Communities hat?
Ich war am CSD nie einer in der ersten Reihe, fürchte aber, das Corona viele Themen in den Hintergrund drängen wird: die LBGTQ-Agenda, sexuelle Gewalt, Umwelt, Klimaschutz, die europäische Weiterentwicklung.
Allerdings wird mir jetzt erst bewusst, welches wirtschaftlicher Risiko der Corona lock-down mit sich bringt, wie schnell eine nationale Ökonomie abstürzen kann, wie schnell Menschen ohne eigenes Zutun an den Rand ihrer Existenzen geraten. CSD, Schwule Gleichberechtigung, alle weichen Themen werden durch die neuen ökonomischen Zwängen zurückgedrängt werden.
Würdest du sagen, dass wir als queere Menschen etwas tun könnten, um trotz dieser Situation für Sichtbarkeit zu sorgen?
Weiterhin Flagge zeigen und sich als schwuler Mann auch in nicht-schwule Themen einbringen.
Also die Identität bewusster im Alltag leben?
Genau! Wenn ich etwas für jemanden tue, dann soll er wissen, dass die Hilfe von einem schwulen Mann kommt, und der hilft nicht, weil er als Schwuler sozial sensibler wäre, sondern weil er ein ganz normaler Nachbar ist … aber so ganz normal will ich auch nicht rüberkommen …
Auf was freust du dich denn am meisten, nachdem die Restriktionen komplett aufgehoben sind?
Ich freue ich unbeschwert und abstandlsos wieder mit Leuten zusammen zu kommen, und auf ein paar Reisen, z.B. an die Ostsee.
Gibt es etwas was du den queeren Communities mit auf den Weg geben möchtest?
Kein Rückzug in schwule Gettos, wir müssen uns sozial und politisch weiterhin stark und noch stärker engagieren, in der Nachbarschaft und in der Kommunalpolitik.
Welche positiven Effekte könnten Corona haben? Du hattest ja die Digitalisierung schon erwähnt. Gibt es sonst noch Dinge? Vielleicht eine Art-Lerneffekt…
Die sozialen Beziehungen könnten überdacht werden. Jeder schleppt Menschen hinter sich her, zu denen es keine Bindung mehr gibt. Sich von Ballast befreien, aus weniger mehr machen! Digitale Kommunikation erlebt ja eine enorme Evolution.
Es wäre schön, wenn die neuen Möglichkeiten jetzt alltägliches Handwerkszeug werden.
Die Politik könnte die Chancen der Ausnahme ergriffe und echte Reformen durchführen und dabei finanzielle Hilfen an Umweltbedingungen knüpfen, z.B. an den Ausbau der Elektromobilität oder an eine stärkere Nutzung umweltschonender Technologien.
Eine Art Green-New-Deal?
Die Corona-Einschränkungen haben uns den Klimazielen nähergebracht, das Gras ist grüner, der Himmel klarer, die Vögel lauter, die Luft ist messbar sauberere und das, durch aktives Unterlassen. Der Corona-Mehrwert könnte sein, dass wir ernsthaft die Wirkungen der Unterlassungen untersuchen und die Umsetzung dieser Erkenntnisse gezielt fördern.
Würdest du sagen, dass Berlin oder der deutsche Staat mehr tun könnte? Werden Bedarfe übersehen?
Ich überlege… bei SARS-Zeit in Asien mussten auch viele kostenintensive Entscheidungen kurzfristig getroffen werden und oft nur auf Grund von Annahmen, die sich später als nichtzutreffend herausstellten.
Daher find ich, dass die Bundesregierung, die Kanzlerin, der Gesundheitsminister bisher gut beraten waren und logisch und klug gehandelt haben.
Man muss jetzt aber genauer hinsehen, wer jetzt noch durch die Maschen der Förderprogramme fällt.
Habe ich etwas in Bezug auf deinen Alltag, dein Sexleben und Substanzkonsum vergessen? Etwas was Wichtig wäre…
Was wäre mir noch wichtig? Vielleicht das Bewusstsein, dass es eine zweite Infektions-Welle gegen Jahresende geben wird. Die wird Bevölkerung, die Versorgungssysteme und die Wirtschaft stärker belasten als die aktuelle.
Vorbereitungen müssen jetzt getroffen und die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen sehr deutlich kommuniziert werden.
Das Interview wurde geführt von Simon Lang, SIDEKICKS.BERLIN.
Das Foto stammt von Wolf.